Ich lebe, du lebst, Sie leben.
Ich sterbe, du stirbst, Sie sterben.
Beides geschieht gleichzeitig. Leben und Tod sind untrennbar miteinander verbunden. In jedem Moment, in dem ich atme und das Leben mich durchströmt, bewege ich mich auf den Tod zu. Mit jedem Lebensjahr wird mir meine Vergänglichkeit bewusster. Und immer wieder sterben Menschen, die ich geliebt habe. Manche sterben langsam und gehen in einer Demenz unter. Andere sterben plötzlich und völlig unerwartet. Dann bricht der Tod mit Macht in unser Dasein ein. Mit einem Schwerthieb teilt er unser Leben in ein Vorher und ein Nachher. Zurecht schreibt der französische Moralist Francois de la Rochefoucauld in seiner Maxime 26: „Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder en face“ – Weder der Sonne noch dem Tod kann man nicht ins Gesicht blicken. Aber man kann sich damit auseinandersetzen und vielleicht die Angst überwinden, die einen dabei leicht erfasst. Auf jeden Fall ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Tod ein bewussteres Leben. Es lohnt zu überlegen, ob man das Leben lebt, dass man eigentlich leben möchte. Es lohnt zu reflektieren, welche Menschen wirklich etwas bedeuten und was die eigene Seele nährt.
Als ich Anfang 2020 bereits begonnen hatte, das Festival MEMENTO MORI zu konzipieren, brach die Corona-Pandemie aus. Plötzlich war der Tod allgegenwärtig und dramatische Bilder aus Italien schockierten die europäische Öffentlichkeit. Die Angst vor dem Sterben übernahm das Regime und man zog Camus’ „Die Pest“ hervor. Auf dramatische Weise wurde im vergangenen Jahr deutlich, wie wichtig Trauerkultur ist. Pandemiebedingt sterben und starben Menschen in Einsamkeit. Angehörigen bleibt es verwehrt, sich von Familienmitgliedern und Freund*innen zu verabschieden – für Millionen Menschen weltweit eine traumatische Erfahrung. Vor diesem Hintergrund reflektiert das Festival auch unsere kulturell diversen Trauerkulturen. Mein Wunsch ist es, Menschen ins Gespräch zu bringen. Über den Tod, das Sterben, über Verluste, das Trauern – und über das Leben.
Tina Zickler
Wien, im April 2021